Thomas Jonigk: weiter. (2020)

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Auf wahren Begebenheiten basierende Geschichten sind gerade im Trend, wie mir scheint. True Crime boomt, und beim vorletzten Kinobesuch fiel mir auf, dass nicht nur der Hauptfilm, sondern beide Vorfilme auf historische Ereignisse verweisen, denen sie nachempfunden sind. Nicht wenige Menschen messen diesem Umstand eine bestimmte Wertigkeit bei, finden eine vermeintlich wahre Geschichte besonders erzählenswert.

Ist sie dann nicht interessant erzählt, kann – wer will – immer noch die mangelnde Plausibilität des Erzählten beklagen oder sich sagen, man habe noch etwas gelernt. Mir selbst ist das einerlei, dazu am Ende dieser Rezension noch ein Zitat von Aristoteles.

Jonigks Roman beginnt jedenfalls mit umgekehrten Vorzeichen: Eine ausgesprochen auktoriale Erzählstimme – vom restlichen Text abgesetzt und kursiv –  betont die Fiktion des Kommenden, beteuert ihren Wirklichkeitsanspruch und greift explizit auf einen so gängigen wie uralten Topos zurück: Erzählen als Flucht, womöglich als Therapie:

»Ich verfasse eine Biografie, eine Biografie, die fiktiv ist, einer erdichteten, unterstellten Welt abgerungen: meinem verbohrten, idiotischen Kopf. Und trotzdem existiert diese Welt. Es gibt diesen Menschen aus Bleistift, Papier und Hirnwindung. Er ist genauso wirklich wie ich. Einfach, weil er möglich ist. Und diese Möglichkeit, diese in geschriebene Wörter gefasste Möglichkeit, ist vielleicht eine Gegenwelt. Ein Ausweg. Eine Überlebensstrategie.«

Zur Handlungsebene: Zwei Menschen in ihren 20ern, ein Tag in einem Westberliner Café in den 80ern. Was sie vereint: beide tragen schwarz, beide stecken gerade in einer veritablen Krise. Zwei verlorene Seelen. Warum das auf Veronika zutrifft, wird auf den ersten hundert Seiten erzählt. Von Roberts Geschichte erfahren wir danach, vieles davon im Gespräch mit ihr in eben jenem Café.

Der Roman beginnt vehement, man liest sich rasch fest, taucht ein in ein äußerst düsteres prekäres Universum, wird zurückgeführt zu den Anfängen von Veronikas Geschichte, ihren Eltern und Großeltern. Holy moly. Nach ein ein paar Seiten sehe ich mir das Cover nochmal an. Nein, der Autor heißt nicht  Sibylle Berg. Aber es würde mich nicht wundern, wenn doch. Derselbe mitleidlose, zynische Duktus, dieselbe Art, dem gnadenlosen Schicksal dabei zuzusehen, wie es Veronikas erste Lebensjahre prägt, derselbe spöttische Blick auf die Kreatur allgemein und das an den Rand gedrängte Kind resp. Mädchen im Besonderen.

Veronika wird von Anfang an zu wenig geliebt und zu sehr begehrt – das ist dicke Post, mitunter schwer verdaulich, und doch bleibt man dran, will mehr erfahren. Das Einzelkind ist die Zielscheibe des Selbst- und Lebenshasses ihrer Eltern, der trinkenden Mutter und des vor sich hinvegetierenden Vaters. Der Erzähler führt in kürzeren und längeren Abschnitten durch ihre Genese, die mit dem titelgebenden »Weiter.« miteinander verkettet werden. Egal wie krass: es geht einfach weiter, vom einen ins nächste Erzählfenster.

Erzählt wird von Veronikas Suche nach einer Form, sich von ihrem katastrophalen Umfeld, von Rollenbildern und anderen Feindbildern abzugrenzen und sich mit ihrer Realität zurechtzufinden. Nein, dieses Suchen nach Rollen, einer inneren Haltung, einer Identität, das ist nichts allzu Neues, aber es sprach mich an, mit welcher Radikalität von Veronikas Umgang mit ihrem Geworfensein erzählt wird, vom Kind zum Teenager und zur jungen Erwachsenen. Wie sie die Kontrolle über ihr Leben gewinnt oder zu gewinnen glaubt und wieder verliert. Und wie sie verdrängt, was nicht zu verarbeiten ist. Und doch schafft sie irgendwie den Absprung, weg aus der Provinz nach Berlin. Wo sie zufällig Bekanntschaft mit Robert macht.

Roberts Geschichte beginnt mit dem Ende einer zehnjährigen Beziehung. Sein um viele Jahre älterer Freund Florian, ein narzisstischer Opernsänger, hat ihn mit Lars betrogen, einem Teenager und Statisten. Der Schock des Verlusts und der eigenen Ersetzbarkeit ist von da an omnipräsent. Inmitten seiner Verzweiflung kommt es zu einer schön erzählten Begegnung mit einer Stockholmer Schalterbeamtin, die ihm kurz das ABC der Schmerzverarbeitung vorbetet. Ein Beispiel dafür, dass der Roman auch gewisse leichte Momente hat, die einem bei all den Katastrophen, ähnlich wie bei den meisten Texten von Berg, etwas Distanz verschafft.

Die eigentliche Begegnung der beiden Protagonisten bildet dann den Schlussteil, der nochmals mit den Möglichkeiten verschiedener Realitäten spielt. Ich habe den Roman so ziemlich an einem Stück gelesen.

PS Von Aristoteles existiert ein Zitat zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Dichtung (das freilich der Interpretation bedarf): Geschichtsschreibung erzähle davon, wie sich etwas abgespielt hat, Dichtung davon, wie sich etwas abspielen könnte.

 

 

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